Jungle World Nr. 2, 8. Januar 2015
»Zuhälterromantik gibt es genug«
Friedhöfe als Datenbanken: Die Künstlerin Elianna Renner rekonstruiert die Biographien Prostituierten, die im 19. Jahrhundert für einen jüdischen Zuhälterring in Argentinien gearbeitet haben.
Interview: Radek Krolczyk
Im Jahr 2012 sind Sie auf den Spuren eines jüdischen Zuhälterrings durch die halbe Welt gereist. Zwi Migdal war eine Zuhälterorganisation, die vermutlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Warschau gegründet und 1930 zerschlagen wurde. Der Ring hatte um 1890 seinen Sitz in Buenos Aires. Sein Einfluss reichte aber weit über Argentinien hinaus. Man geht davon aus, dass die Organisation auch in Indien, China, Südafrika und den USA tätig war. Wie sind Sie auf Zwi Migdal aufmerksam geworden?
Ganz zufällig. Vor ein paar Jahren habe ich einen jiddischen Gesangsworkshop besucht. Dort lernte ich auch einen jiddischen Tango von 1930 kennen. Der Titel lautet übersetzt »Von meiner Mutter hat man mich weggenommen«. Darin führt ein Mädchen ein Zwiegespräch mit einem Mann. Sie erzählt, sie sei in Buenos Aires gelandet, man habe sie dort zu einer Hure gemacht und sie sehne sich zurück nach Hause. Der Mann antwortet ihr, in Argentinien gehe es ihr gut, zu Hause in Polen dagegen herrsche Armut. Ich habe dann erfahren, dass es einen jüdischen Zuhälterring mit dem Namen Zwi Migdal gegeben hatte. Genauere Informationen habe ich erst mal nicht bekommen.
Woher kommt der Name?
Das ist der Name einer männlichen Person. Zuerst hieß der Ring Warsche, das ist Jiddisch für Warschau. Die Gruppe kam vermutlich aus Warschau, das damals formal dem russischen Zaren unterstand. Der polnische Staat wurde ja erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gegründet. Um 1920 führte der neugegründete Staat einen Prozess gegen die Gruppe. Man wollte nicht, dass ein Zuhälterring den Namen der polnischen Hauptstadt trägt.
Lassen sich die Gründung der Organisation und der Umzug nach Lateinamerika genauer rekonstruieren?
Leider nein. Sollte es Gründungsdokumente gegeben haben, sind diese wahrscheinlich zerstört worden. Buenos Aires ist der Sitz der Amia. Das ist der Dachverband der jüdischen Gemeinden in Argentinien. Dort befand sich auch das Zentralarchiv der Jüdischen Gemeinden, und es wird gemunkelt, dass sich dort auch die Papiere von Zwi Migdal befunden haben könnten. 1996 wurde die Amia bei einem Anschlag der Hizbollah zerstört. 86 Menschen kamen dabei ums Leben, mehr als 100 wurden verletzt.
Ein Zuhälterring soll seine Dokumente an ein zentrales Archiv für jüdisches Leben in Argentinien gegeben haben?
Das ist durchaus denkbar: Zwi Migdal war eine eigenständige Organisation mit Sitz in Buenos Aires und hatte durchaus einen offiziellen Charakter. Sie hatte eine eigene Gemeinde mit einem eigenen Friedhof und einer eigenen Synagoge. Das ist aus der Not heraus entstanden, weil sie von der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen wurden. Die hatten keine Lust, mit Zuhältern zu tun zu haben.
Es handelt sich um eine kriminelle Parallelgesellschaft mit religiöser Infrastruktur?
Für uns klingt das seltsam: Es ist moralisch schwer vorstellbar, dass jemand einen Mord begeht und danach beten geht. Für Leute, die das Morden einfach nur als Job begreifen, ist das anders. Bei der italienischen Mafia ist es ähnlich. Seit wann sind Kriminelle konfessionslos?
Wie sind Sie bei Ihrer Recherche vorgegangen?
Ich habe zunächst eine Liste mit allen relevanten Wirkungsstätten der Organisation gemacht. Darauf stand: New York, Buenos Aires, Montevideo, Rio de Janeiro, São Paulo, Mumbai, Kapstadt und Johannesburg. Diese Orte habe ich der Reihe nach aufgesucht.
Auf welchem Weg kamen die jüdischen Frauen von Polen nach Argentinien?
Die Frauen wurden zum Teil mit falschen Versprechungen dazu bewegt, ihr Zuhause zu verlassen. Es gibt Geschichten von inszenierten, nichtoffiziellen Hochzeiten. Andere Frauen wurden aber auch mit dem Versprechen gelockt, als Haushälterin beschäftigt zu werden. Ausgereist wurde per Schiff, zuerst über Marseille und Hamburg, später auch über Bremen. Vor 1860 war es Juden verboten, nach Bremen zu kommen. Ende des 19. Jahrhunderts wurden auch verschiedene Organisationen im Kampf gegen den Frauenhandel gebildet: In Bremen war auch der erste Stadtrabbiner – Leopold Rosenak – im Kampf gegen den Frauenhandel aktiv. Er arbeitete mit dem jüdischen Zweig des deutschen Nationalkomitees zur Bekämpfung des Mädchenhandels in Hamburg eng zusammen. Die Organisation operierte international und war auch an mehreren Kongressen beteiligt. Die Angelegenheit wurde sehr ernst genommen. In den Ankunftshäfen warteten sogar Mitarbeiter der Organisationen auf die Schiffe, um sich um allein reisende Mädchen zu kümmern und sie zu warnen.
Wie kam es dazu, dass die Frauen sich auf den Weg machten?
In Polen herrschte große Armut. Jemanden davon zu überzeugen, nach Argentinien überzusiedeln, war kein Kunststück. Teilweise wurden die Frauen aus ihren Familien herausgeheiratet. Die Frauenhändler sind dann einfach bei den Vätern aufgetaucht und haben erzählt: Ich führe ein gutes Leben in Argentinien und habe eine Hazienda, ich würde gerne heiraten, du hast doch eine schöne Tochter – wie wäre das? Du hast doch zehn Kinder und nichts zu fressen. Das hat oft gezogen. Natürlich wussten viele Frauen auch von den Geschäften und gingen dennoch. In Osteuropa hatten sie nichts Besseres zu erwarten. So stelle ich mir das zumindest vor.
Es klingt nach einer sehr großen Organisation.
In Wirklichkeit war sie nicht besonders groß. Zur damaligen Zeit wurde der jüdische Frauenhändler als Feindbild in der Presse aufgebaut. Ich habe Dokumente gefunden, in denen von 400 Zwi-Migdal-Bordellen in Buenos Aires die Rede ist. Diese Zahl klingt vielleicht hoch, aber diese Bordelle waren teilweise nur Wohnungen oder einzelne Zimmer, und die Zahl bezieht sich auf die gesamte Zeit des Zwi Migdal. Frauenhandel war zu dieser Zeit weit verbreitet. Es gab ähnliche Organisationen und Banden aus Italien, Russland, Polen, Frankreich und Spanien. Die sind heute für uns unsichtbar.
Warum ist Zwi Migdal so auffällig?
Weil es sich hier um eine jüdische Organisation handelt. Sie hat Strukturen hinterlassen, denen wir heute hinterherreisen können. Nichtjüdische kriminelle Organisationen sind einfach verschwunden. Immer dann, wenn Juden ausgewandert sind, war es für sie von allergrößter Bedeutung, sich in Gemeinden zusammenzufinden und sich über sie zu definieren. Zu einer Gemeinde gehören ein Friedhof, eine Synagoge und ein Gemeindehaus. Dafür sind Strukturen notwendig. Dadurch haben sie sich in besonderer Weise sichtbar gemacht. Dadurch haben sich aber auch jüdische Zuhälterbanden beispielsweise von italienischen oder französischen Banden unterschieden.
Das hat auch Ihre Recherche erleichtert?
Klar. Als ich zum ersten Mal nach Buenos Aires kam, wusste ich sofort, wohin ich gehen musste. Die jüdische Zuhälterbande hat Spuren hinterlassen, wie es bei anderen Banden niemals der Fall wäre. Ich habe immer zuerst die Gemeindehäuser und Friedhöfe aufgesucht. Das waren meine Archive. Friedhöfe sind sehr ergiebige Datenbanken. Ich habe dort sehr viele hilfreiche Spuren gefunden.
Befördert diese Sichtbarkeit der jüdischen Menschenhändlerstruktur antisemitische Vorstellungen?
Sicherlich. In diversen Zeitungen in Europa konnte man lesen, alle Zuhälter seien Juden. Während der ganzen Zeit gab es antisemitische Texte in der Presse. Der Frauenhandel wurde oftmals insgesamt als jüdisch deklariert.
Sie haben während Ihrer Recherche eine lange Reise zurückgelegt, viele Orte besucht und unterschiedliche Menschen getroffen. Was genau hat Sie interessiert?
Ich wollte herausfinden, was man vor Ort von dieser Geschichte noch weiß, was also von dieser Geschichte heute noch übriggeblieben ist. Ich habe mich für die Mythen interessiert und was man wohl heute noch von den Frauen weiß. Ich wollte aber auch herausfinden, wie diese Geschichte in der Gegenwart fortwirkt. Mir ist aufgefallen, dass in Argentinien der Begriff »la Polaca« – die Polin – für Prostituierte verwendet wird. Der Ursprung ist natürlich die polnisch-jüdische Prostituierte des 19. Jahrhunderts. Die Bedeutung des Begriffs hat den historischen Kontext überlebt. Wobei sich die jüdischen Prostituierten in Buenos Aires damals als La Francesita ausgegeben haben, dem Chic ihrer Zeit folgend.
Welches Material haben Sie auf Ihrer Reise zusammengetragen?
Es sind sehr viele Geschichten, Bilder, Textdokumente und auch Musikstücke, die ich auf meiner Reise gefunden habe. Oder eine Sammlung jüdischer Ganovenlieder, in denen der Alltag von Dieben, Zuhältern und auch Prostituierten beschrieben wird. Mir ging es keineswegs um historisch gesicherte Fakten, sondern um Mythen, Gerüchte und Alltagskultur. Gerade solche Dinge können uns sehr viel lebendiger von einer heute für uns seltsam wirkenden Geschichte erzählen. Kriminalität gehörte zum Alltag der Immigranten. Das ist natürlich eine andere Geschichte als die der herrschenden Schichten. Auch Prostitution, Zwangsprostitution oder andere Formen der Unterdrückung der Frau kommen in nahezu allen Gesellschaften vor. Die Geschichten dieser Frauen werden nur selten erzählt. Mir war es sehr wichtig herauszufinden, was mit den Frauen passiert ist. Für das Leben der Männer habe ich mich nicht sonderlich interessiert. Zuhälterromantik gibt es genug, das ist langweilig. Es war dagegen gar nicht so einfach, etwas über diese Frauen herauszufinden. Das Erste, was ich von ihnen mitbekam, waren ihre Namen auf den Friedhöfen. Oftmals war es auch das Einzige.
War es überhaupt möglich, einzelne Schicksale nachzuvollziehen?
Glücklicherweise ja. In Rio de Janeiro etwa bin ich auf einen Prostituiertenverband gestoßen, der sich um 1890 gegründet hatte. Die Frauen hatten dort ebenfalls eine eigene Gemeinde gegründet – mit einem eigenen Gemeindehaus, einer eigenen Synagoge und einem eigenen Friedhof, versteht sich. Der Verein wurde gegründet, da die Frauen in den jüdischen Gemeinden nicht willkommen waren.
Was geschieht nun mit dem gesammelten Material?
Zunächst arbeite ich an einem interdisziplinären Kunstprojekt. Der Titel ist »Tracking the Traffic«. Es basiert auf einer Website, auf der ich das Material nach und nach zusammenstelle. Ich arbeite hier mit der Historikerin Tamar Lewinsky zusammen. Sie ist am Institut für Jüdische Studien an der Universität Basel tätig. Unser Ziel ist es, ein lebendiges Online-Archiv zu schaffen. Gleichzeitig gehen wir mit dem Thema an die Universitäten und Kunsthochschulen, wo wir Projekte zu dem Thema veranstalten.
Der bereits erwähnte Bremer Rabbi Rosenak hatte den Traum, die Mädchen und jungen Frauen an den Bahnhöfen und Häfen mit einer Zeitung über diese Zuhälterringe aufzuklären. Er ist früh gestorben und hat sein Vorhaben nicht realisieren können. Ich habe dann mit der Historikerin Magdalena Waligórska ein Projekt entwickelt. Gemeinsam mit Studentinnen und Studenten der Kunsthochschule und der Uni in Bremen haben wir unter anderem mit den Materialien, die ich gesammelt habe, eine solche Zeitung entworfen. Sie ist in jiddischer Sprache und heißt Di Naye Velt. Auch das ist Teil von »Tracking the Traffic«.
Gibt es eine Biographie, die Sie besonders beeindruckt hat?
Die Organisation wurde 1930 zerschlagen, das geschah sehr plötzlich: Die Prostituierte Raquel Liberman hatte 1928 versucht, in Buenos Aires den Ring zu verlassen. Sie hatte Geld gespart und wollte ein Antiquitätengeschäft aufbauen. Da man sie nicht gehen lassen wollte, ließ sie die komplette Bande hochgehen. Insgesamt wurden mehr als 100 Personen verhaftet. Es ist schon eigenartig, dass eine einzelne Frau so eine großen Organisation zerstören konnte. Dennoch ist Raquel Liberman heute weitgehend unbekannt. Es gab mal eine Organisation gegen Menschenhandel, die sich nach ihr benannt hatte. Ich habe nun zu Beginn dieses Jahres auf einem kleinen Friedhof in Buenos Aires ihr Grab gefunden. Jetzt arbeite ich an einer Videoinstallation in Argentinien, um Raquel Libermans zu gedenken. Ich finde, sie hat es mehr als verdient, dass ihr Name präsent bleibt. Zwangsprostitution ist leider immer noch ein aktuelles Thema. Raquel Liberman hat das Unmögliche möglich gemacht und sie soll allen Frauen, die zwangsprostituiert wurden und noch immer werden, eine Hoffnung sein.